Offener Brief an die Mitglieder der Regionalversammlung

Sehr geehrte Mitglieder der Regionalversammlung,

wir wenden uns in Vertretung der Bürgerinitiative „Wald statt Stahl+Beton – keine Rodung am Schiffenberg für Bieber+Marburg“ mit der dringenden Bitte an Sie, der von der Stadt Gießen beantragten Abweichung vom Regionalplan 2010 nicht zuzustimmen.

Wir halten die Vorlage 2024/96194 aus verschiedenen Gründen für nicht genehmigungsfähig, was wir im Folgenden näher ausführen möchten.

Zuallererst möchten wir Sie daran erinnern bzw. davon in Kenntnis setzen, wie es zu der letzten Erweiterung des Betriebsareals von Bieber+Marburg gekommen ist. Auch 2008 gab es einen Abweichungsantrag der Stadt Gießen (zum damals gültigen Regionalplan 2000), da ein Unternehmen nicht an diesen Standort mitten im Gießener Schutz- und Erholungswald gehört.

Die Abweichung wurde in der Regionalversammlung jedoch nur unter der Auflage genehmigt, dass es sich um die „endgültigen Grenzen des Gewerbegebiets“ handele und „eine zukünftige Erweiterung ausgeschlossen sei“! Nur unter dieser Prämisse haben das Regierungspräsidium und anschließend auch das Gießener Stadtparlament dem Gewerbegebiet zugestimmt.

Diese wesentlichen Hintergrundinformationen bzw. Bedingungen wurden den Gießener Stadtverordneten beim Einleitungsbeschluss für das aktuelle B-Plan-Verfahren ebenso wie der Öffentlichkeit durch den Magistrat der Stadt Gießen vorenthalten und erst nach Hinweisen aus der Regionalversammlung bekannt. Dieser Vorgang einer Umgehung von getroffenen Beschlüssen in Hinterzimmern erschüttert aus unserer Sicht das Vertrauen in Politik und befeuert die grassierende Politikverdrossenheit. Dies gilt umso mehr, da das Vorhaben einem wesentlichen Ziel des Regionalplans entgegensteht, nämlich „splitterhafte Siedlungsentwicklungen und disperse Siedlungsstrukturen auszuschließen“.

Einen zentralen Teil des Antrags stellt die CO2-Bilanz dar (Kapitel 5.4), die im Übrigen fälschlicherweise als Öko-Bilanz bezeichnet wird und mit deren Hilfe der wichtige Grund für die Abweichung nachgewiesen werden soll. Diese Bilanz ist aus unserer Sicht derart fehlerbehaftet, dass sie keinesfalls als Entscheidungsgrundlage in einer so wichtigen Angelegenheit dienen darf.

Eine ausführlichere Stellungnahme unserer Bürgerinitiative zu diesem Kapitel können Sie unter https://waldstattstahlundbeton.de/worum-es-geht/#CO2-Bilanz finden. Wir möchten Sie an dieser Stelle auf einzelne massive Fehler hinweisen, die verdeutlichen, dass das beauftragte Architektur-Büro seine Kompetenzen in vielen Feldern haben mag, aber sicher nicht bei der Erstellung von Klimabilanzen, die sie im Projekt Bieber+Marburg nach eigenen Angaben erstmalig durchgeführt haben.

So ist es methodisch absurd, die CO2-Emissionen für zusätzlichen innerbetrieblichen Verkehr, der bei einer Teilverlagerung des Betriebes entstehen würde, über 50 Jahre mit den aktuellen Diesel-Emissionswerten zu berechnen und damit so zu tun, als würde die EU nicht ein schrittweises Absenken der LKW-Emissionen um 90% bis 2040 – also innerhalb von 16 Jahren – vorschreiben.

Ebenso ist es falsch, der Dach- und Fassadenbegrünung eine höhere CO2-Speicherleistung zuzuschreiben als einem bestehenden Wald. Den Autoren der Bilanz ist dieser selbst für Laien offensichtliche Fehler nicht aufgefallen. So wird der Dach- und Fassadenbegrünung 47 Jahre lang eine relevante CO2-Speicherung zugerechnet, obwohl die selbst in der Bilanz von den Autoren zitierte Quelle von gerade einmal drei Jahren ausgeht.

Und es ist geradezu grotesk, dass die CO2-Bilanz für die Standorterweiterung umso besser ausfällt, je mehr Wald gerodet wird. Dies kommt dadurch zustande, dass das Speicherpotential der notwendigen Ausgleichsfläche von den beim Bau anfallenden CO2-Emissionen abgezogen wird. Das auf der Rodungsfläche jedoch bereits gespeicherte CO2, das bei den Bauarbeiten zu einem großen Teil wieder freigesetzt würde, sowie die zukünftige Speicherleistung des Waldes, gehen nicht mit in die Bilanz ein.

Die Umweltverträglichkeitsprüfung zum Vorhaben trifft folgende Aussage: „Die Standorterweiterung ist eindeutig die Variante mit den negativsten Einflüssen auf Natur und Umwelt“. Wir können uns nur wiederholen: Eine derart fehlerhafte CO2-Bilanz kann niemals eine rechtssichere Grundlage für eine Entscheidung sein, die diese Aussage konterkariert und vermeintlich entkräftet.

Lassen Sie uns zum Abschluss noch auf ein aus unserer Sicht ganz wesentliches Argument gegen die Erweiterung eingehen:

Wenn Sie der Abweichung zustimmen, wird nächsten Erweiterungen durch Bieber+Marburg (oder andere Unternehmen, die irgendwann mal in Besitz der Fläche sein werden), Tür und Tor geöffnet. Wenn Sie jetzt die Argumente für eine Zustimmung stärker gewichten als die Argumente dagegen und die eindeutigen Festlegungen von 2008 ignorieren, werden Sie das auch in Zukunft tun müssen. Damit wäre in absehbarer Zeit die nächste Erweiterung gewiss – der Standort mit eigenem Gleisanschluss, mit eigener Zufahrt, ohne andere Unternehmen in der Nachbarschaft ist einfach zu attraktiv.

Die Gießenerinnen und Gießener wollen kein immer und immer wieder erweitertes Gewerbegebiet im Schiffenberger Forst.

Wir appellieren daher an Sie, dem Antrag der Stadt Gießen die Zustimmung zu verweigern. Seien Sie sich der Verantwortung bewusst, die mit Ihrer Entscheidung einhergeht.

Gerne stehen wir Ihnen für Rückfragen zur Verfügung.

Herzlichen Dank,

Das Sprecher*innen-Team der Bürgerinitiative „Wald statt Stahl+Beton“

Conny Feistauer, Franziska Werthmann, Sophie Held

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